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Das ultimative Wärmeleitpasten- und Pad-Kompendium: Anwendung, Bestandteile, Herstellung, Optimierung, Alterung, Gewinnmargen und Marketing

Probleme unter null Grad und LN2

Die Entwicklung von Wärmeleitpasten, die auch bei extrem niedrigen Temperaturen, im sogenannten Tiefsttemperaturbereich, zuverlässig funktionieren, stellt eine wichtige Herausforderung in der Materialwissenschaft und -technik dar. Dazu gehört im PC-Bereich auch das spezielle Feld des Übertaktens im Tief- bzw. Tiefsttemperaturbereich, z.B. mit Flüssigstickstoff (LN2). Silikonbasierte Wärmeleitpasten sind aufgrund ihrer inhärenten thermischen Stabilität, Flexibilität und chemischen Inertheit beliebt. Allerdings kann die Leistungsfähigkeit dieser Materialien bei sehr niedrigen Temperaturen durch eine Zunahme der Viskosität oder durch sprödes Verhalten beeinträchtigt werden.

© igor’sLAB – Exemplarische Niedrigtemperaturpasten

Das Overclocking mit flüssigem Stickstoff (LN2) stellt allerdings extreme Anforderungen an die Hardware und die verwendeten thermischen Interface-Materialien, insbesondere die Wärmeleitpaste. Für diesen speziellen Einsatzbereich entwickelte Wärmeleitpasten müssen unter extrem niedrigen Temperaturen, oft unter -196 Grad Celsius, effizient arbeiten. Diese Pasten sind so formuliert, dass sie bei solchen Bedingungen nicht einfrieren, ihre thermischen Eigenschaften beibehalten oder sogar verbessern und keine Risse oder Brüche durch die extreme Kälte und die damit verbundenen thermischen Spannungen entwickeln. Obwohl diese Eigenschaften für LN2-Overclocking essentiell sind, machen die spezifischen Anforderungen und Formulierungen dieser Wärmeleitpasten sie für den Normalbetrieb bei Raumtemperatur eher unpraktisch und in vielen Fällen sogar komplett sinnlos.

Credit: Ronaldo Buassali (TecLab)

Eine der Schlüsselstrategien zur Verbesserung der Tiefsttemperaturleistung von Silikon besteht nun in der Modifikation seiner Polymerstruktur. Silikonpolymere (Polysiloxane) bestehen, das schreib ich gerade auf der vorigen Seite, aus Silizium-Sauerstoff-Ketten, an die organische Seitengruppen gebunden sind. Die Flexibilität dieser Ketten bei niedrigen Temperaturen kann durch die Einführung von Seitengruppen mit niedrigerem Glasübergangspunkt (Tg) verbessert werden. Zum Beispiel können phenylhaltige Silikone im Vergleich zu den herkömmlichen methylhaltigen Silikonen bei niedrigeren Temperaturen flexibel bleiben, da Phenylgruppen die Beweglichkeit der Polymerkette auch bei niedrigen Temperaturen erhöhen.

Diese Fähigkeit, thermische Kontraktion ohne Rissbildung oder Delamination zu widerstehen, ist entscheidend, da jede Unterbrechung im thermischen Interface die Kühlleistung erheblich beeinträchtigen kann. Darüber hinaus sind diese Pasten so konzipiert, dass sie eine maximale thermische Leitfähigkeit bei Temperaturen bieten, die weit unter dem Gefrierpunkt liegen – ein Merkmal, das in Standardanwendungen nicht erforderlich ist.

Credit: Ronaldo Buassali (TecLab)

Die Zugabe von speziellen Additiven kann die Kryogenbeständigkeit von Silikonwärmeleitpasten weiter verbessern. Kryoprotektive Additive, wie bestimmte Polyalkylenglykole oder Kryofluids, können in die Silikonmatrix eingebettet werden, um die Bildung von Eiskristallen innerhalb der Paste zu verhindern oder zu minimieren. Diese Additive können als „Anti-Frost“-Agentien fungieren und sicherstellen, dass die Paste auch bei extremen Kältebedingungen eine homogene und leitfähige Schicht bildet.

Optimierung der Verarbeitung und Aushärtung

Die Verarbeitungs- und Aushärtungsbedingungen von Silikonwärmeleitpasten müssen ebenfalls für den Einsatz bei Tiefsttemperaturen optimiert werden. Die Aushärtung bei kontrollierten Bedingungen kann dazu beitragen, interne Spannungen zu minimieren, die bei Temperaturwechseln zu Rissen führen könnten. Zudem kann die Auswahl von Aushärtungssystemen, die bei Raumtemperatur oder unter milden Bedingungen aushärten, die Integrität der Paste in Bezug auf kryogene Anwendungen verbessern. Die Modifikation von Silikon in Wärmeleitpasten für den Einsatz im Tiefsttemperaturbereich erfordert eine multidisziplinäre Herangehensweise, die Materialwissenschaft, Chemie und Physik umfasst. Durch die gezielte Anpassung der Silikonpolymerstruktur, die Auswahl kompatibler Füllstoffe, den Einsatz kryoprotektiver Additive und die Optimierung der Verarbeitungsabläufe. Zum Einsatz von Einsatz von kryokompatiblen Füllstoffen komme ich allerdings später noch einmal zurück, hier soll es erst einmal um die spezielle Matrix gehen, ohne die so eine Paste nie funktionieren würde.

© igor’sLAB – Kryonaut Extreme

Falsch verstandenes Marketing und hohe Kosten

Die Entwicklung und Herstellung von Wärmeleitpasten, die für LN2-Overclocking optimiert sind, ist kostenintensiv. Diese Kosten werden natürlich direkt an den Verbraucher weitergegeben, was diese Pasten für den alltäglichen Gebrauch reichlich unpraktisch macht, besonders wenn bedacht wird, dass herkömmliche Pasten bei Raumtemperatur ähnliche oder ausreichende Leistung zu einem Bruchteil der Kosten bieten. Dazu kommen die überoptimierten Spezial-Eigenschaften, denn obwohl diese die Wärmeleitpasten für extrem niedrige Temperaturen erst geeignet machen, sind sie bei Normalbetrieb nicht nur unnötig, sondern können auch direkt nachteilig sein. Beispielsweise kann eine Paste, die für Flexibilität bei extremen Kältegraden formuliert wurde, bei Raumtemperatur zu weich oder zu flüssig sein, was zu einem suboptimalen thermischen Interface führt.

Spezialpasten können schwieriger aufzutragen sein und eine regelmäßige Wartung erfordern, was für den durchschnittlichen Anwender unpraktisch ist. Die Notwendigkeit, die Paste häufig neu aufzutragen oder spezielle Vorsichtsmaßnahmen zu beachten, um ihre Integrität bei Raumtemperatur zu gewährleisten, kann mehr Aufwand als Nutzen bedeuten. Bei Raumtemperatur bieten spezialisierte LN2-Pasten möglicherweise keinen erkennbaren Leistungsvorteil gegenüber herkömmlichen Wärmeleitpasten. Die thermischen Anforderungen des Normalbetriebs sind deutlich geringer, und die zusätzlichen Kosten und potenziellen Nachteile rechtfertigen nicht die Verwendung dieser spezialisierten Pasten.

© igor’sLAB – Exemplarische Niedrigtemperaturpasten

Zwischenfazit und wohlgemeinter Hinweis

Während spezialisierte Wärmeleitpasten für LN2-Overclocking in ihrem Einsatzgebiet unverzichtbar sind und bemerkenswerte Leistungen unter extremen Bedingungen ermöglichen, sind sie für den Normalbetrieb bei Raumtemperatur in der Regel nicht geeignet. Die Eigenschaften, die sie für extreme Kälte optimieren, führen zu Kompromissen, die ihre Verwendung in Standardanwendungen unpraktisch, kostspielig und oft unnötig machen. Für die meisten Anwender und Anwendungen sind herkömmliche Wärmeleitpasten, die speziell für den Temperaturbereich des Normalbetriebs entwickelt wurden, die weitaus sinnvollere Wahl.

Zwillinge? Thermal Grizzly Kryonaut Extreme vs. Kingpin Cooling KPx mit Rasterelektronenmikroskop und Röntgenspektroskopie analysiert

 

 

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s
scotch

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153 Kommentare 103 Likes

Danke für den Artikel. Bis jetzt nur überflogen, werde ich mir aber noch in Gänze geben! Immer wieder Spannend. Vor allem Pads in aller Art ober auch Putty finde ich spannend.

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Igor Wallossek

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10,273 Kommentare 19,012 Likes

Ich sags mal so: die Leute lassen sich viel zu viel blenden :D

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Inzingor

Veteran

198 Kommentare 120 Likes

Guten Morgen! Vielen Dank für den großartigen Aufsatz während meines ersten Kaffees. Er bestätigt zahlreiche Vorversuche von dir und auch meine Vermutungen.

Ich habe auch schon ein paar Mal teurere Pasten z.B. von Thermal Grizzly gekauft, und die ist nach kurzer Zeit bereits eingetrocknet gewesen. Einmal kam sie sogar steinhart an. Seitdem kaufe ich nichts mehr von diesem Laden und verwende nur noch die günstigen Arctic - und das funktioniert bis jetzt tadellos.

So ein Graphit-Pad ist für meinen nächsten PC angedacht, damit ich mir die Patzerei komplett erspare.

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arcDaniel

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Danke für den Artikel, hier gibt es viel zu lesen.

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4medic

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96 Kommentare 50 Likes

Danke für den lesenswerten Artikel und

Gruß

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big-maec

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862 Kommentare 508 Likes

Habe den umfangreichen Artikel eher aus Neugier gelesen, einiges wusste ich ja schon aus vorherigen Artikel, aber einiges war mir auch neu.
Im Moment bin ich aber bei CPU/GPU von der Paste weg und setze vorzugsweise Graphen Pads ein in der Hoffnung das die bei höheren Temperaturen über 70 C° länger halten. Bis jetzt bin ich mit den Pads auch soweit zufrieden und erreiche damit gute Werte, habe aber auch festgestellt. Je nach Hardware können bei der Montage neue Probleme auftauchen.

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Igor Wallossek

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10,273 Kommentare 19,012 Likes

Ja, das ist alles etwas tricky, Graphan gibts ja noch nicht legal für Endanwender :(

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arcDaniel

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1,625 Kommentare 892 Likes

So habe nun den Artikel gelesen und für mich heisst das Zusammengefasst (für CPU/GPU Kühler):
-Ein Teueres Graphit-Pad, was auber ausgerichtet sein muss und was vielleicht nicht im Artikel explizit steht, wegen der dünne leicht reissen kann
-oder einfach eine ehrliche nicht zu teure Paste (ich nutze meist die Noctua NT-H2, 4Euro/gr) und wechsele diese wenn nötig

Das Säubern und neu Auftragen dauert keine 10 Minuten, wenn im vorfeld nicht übertrieben wurde und es funktioniert.

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Megaone

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Und immer und immer wieder. Solche Artikel finden sich nur bei Igor!

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m
mattiii

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16 Kommentare 8 Likes

deswegen nutze ich meist nur noch die mitgelieferte Paste der Kühler.
Bin früher aber auch mal aufs Marketing reingefallen, wegen idealerweise 2° besserer Temperaturen. :D

Und wenn man Punkte auf der CPU verteilt, ist auch die Viskosität egal, das macht dann der Anpressdruck.

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Megaone

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1,754 Kommentare 1,652 Likes

Vielleicht ist die Frage ja infantil, aber müssten nicht niedrigere Temperaturen die Lebensdauer der Pasten verlängern. Sowohl meine Wassergekühlte 3090 noch meine Luftgekühlte 4090 erreichen so gut wie nie die 65 Grad Grenze. Auch der Arbeitsspeicher der 3090 wird dank nachgerüsteter Pads nie heisser.

Handlungsbedarf besteht doch normalerweise erst bei steigenden Temperaturen?

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Igor Wallossek

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10,273 Kommentare 19,012 Likes

Das liegt einzig und allein an der verwendeten Matrix. Es gibt auch Hochtemperaturpasten und ein ganzes Kapitel zum Temperaturfenster bzw. auch zur Degradation.

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midwed

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Vielen Dank für den Artikel! (y) Werde ihn mir mal demnächst in Ruhe zu Gemüte führen 😄

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big-maec

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862 Kommentare 508 Likes

Okay, wusste ich noch nicht, aus Graphen kann man Graphan machen, mit einem kleinen Unterschied den man sich mal merken sollte.

Gibt es denn da schon Erkenntnisse oder Messwerte als Graphan-Wärmeleitpad ?

Hab da auf der Schnelle nur das gefunden:

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Igor Wallossek

1

10,273 Kommentare 19,012 Likes

Dazu stand was in einem meiner Artikel zu den Workstation-Grafikkarten.

.... Man benutzt eine komplett neue Art eines Wärmeleitpads und ich vermute hier, auch anhand der Materialanalyse, einmal Graphan statt des üblichen Graphens. Für Graphan statt Graphen spricht, dass man das Pad ziemlich sorgenfrei auch über SMD-Bauelemente gelegt hat, denn die reinen Graphit- oder Graphen-Pads sind elektrisch leitend. Also muss es die Materialanalyse richten. Wir sehen aber auch, dass es sich trotzdem auch um eine Art Phasenwechsel-Pad mit Burn-In handelt.

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Graphan, ein Werkstoff, der eng mit Graphen verwandelt ist, kann durch die Interaktion mit atomarem Wasserstoff erzeugt werden. Dieser atomare Wasserstoff wird mittels einer elektrischen Entladung in einem Wasserstoff-Argon-Gemisch produziert. In diesem Prozess wird jedes Kohlenstoffatom des Graphens mit einem Wasserstoffatom verbunden, wodurch Graphan entsteht. Die resultierende Bindungsstruktur von Graphan ähnelt der sesselförmigen Struktur von Cyclohexan. Interessanterweise verändert diese Wasserstoffbindung die elektronischen Eigenschaften des ursprünglichen Materials grundlegend. Während Graphen ein hervorragender elektrischer Leiter ist, wird Graphan zu einem elektrischen Isolator. Diese Eigenschaft macht Graphan besonders interessant für Anwendungen in der Elektronik, beispielsweise in der Entwicklung von Transistoren und Sensoren, oder aber für elektrisch isolierende Wärmeleitpads.

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:)

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Klicke zum Ausklappem
G
Guest

Das ist nichts neues!

1878: Zauberwunderwasserverkäufer. Wilder Westen. Mit Change auf Teeren und Federn ( KUndenbindung...lol) ( die Warzen der Damen wurden nicht..)(Texxas)
2024: TIG TOG : " wääär ist der größte und schönste Hochkantdepp im ganzen Land? Du mein Meister...etz.."

Danke für diesen Beitrag: maxximale Info.
Was wäre, wenn es diese Paste als Streifen ( wie Kaugummi) gäbe und den picken ( verz. kleben) die Leute auf
die CPU-Fläche? Und weil die Eigenschaft ist, sich unter dem Kühler/ Wakü nach starten des Rechners ideal zu ver-
formen und anzupassen, ist maximale Wärme abfuhr und jeweilige Form des zu kühlenden teils optimal gewährleistet.

Und warum muss CPU-fläche SO KLEIN sein? ich weiß eh..

LG stern stern stern stern stern Peace :)

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e
eastcoast_pete

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1,532 Kommentare 864 Likes

Wow, woran liegt das denn? Wenn Du @Igor Wallossek hier nicht unter NDA liegst oder Quellen schützen musst, würd mich der Grund dafür sehr interessieren.
Ich will (muß) nämlich demnächst Mal einen Laptop verarzten, dem wohl auch die Paste eingetrocknet ist (wird jetzt schnell sehr warm und drosselt), und eine dünne Graphan Pad oder Folie wär dafür genau richtig.

Und, danke für den tollen Artikel, der wird gleich mit einem eigenem Bookmark versehen. Und meinem Spellcheck hab ich auch erst gerade "Graphan" beibringen müssen, der wollte es nämlich gleich in "Graphen" ändern, denn das kannte er schon.

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Igor Wallossek

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10,273 Kommentare 19,012 Likes

Zu neu und zu teuer. Da fallen keine großen Margen ab und es hat auch noch keiner für sich entdeckt. :D

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konkretor

Veteran

305 Kommentare 313 Likes

Wann gibt es Paste mit dem Igorslab Logo zu kaufen

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Danke für die Spende



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About the author

Igor Wallossek

Chefredakteur und Namensgeber von igor'sLAB als inhaltlichem Nachfolger von Tom's Hardware Deutschland, deren Lizenz im Juni 2019 zurückgegeben wurde, um den qualitativen Ansprüchen der Webinhalte und Herausforderungen der neuen Medien wie z.B. YouTube mit einem eigenen Kanal besser gerecht werden zu können.

Computer-Nerd seit 1983, Audio-Freak seit 1979 und seit über 50 Jahren so ziemlich offen für alles, was einen Stecker oder einen Akku hat.

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