ATX 3.0 und der Ursprung der sinnlos hoch bemessenen Lastspitzen
Hier müssen wir auch noch einmal auf PCIe 5.0 zurückkommen, denn das Eine greift ja auch ins Andere. Den lieben Grafikkarten-Herstellern ist es am Ende zu verdanken, dass die PCI SIG diesen Wahnsinn für alle Karten ab 300 Watt TBP in den PCIe 5.0 Standard bindend mit aufnimmt. Natürlich darf man jetzt einzelne Lastspitzen in der PCIe 5.0 Definition nicht mit einzuhaltenden Lastzyklen der Netzteile im ATX 3.0 Dokument direkt vergleichen, aber diese Zyklen basieren in der logischen Weiterführung nun einmal exakt auf dem, was vorher in die PCIe 5. Spezifikation aufgenommen wurde. Dafür sorgten die gemeinsam von AMD und NVIDIA eingebrachten Forderungen und es wäre reichlich unfair, NVIDIA allein für diesen energetischen Unfug zu prügeln.
Das Wichtigste bei der aktuellen Normierung bis zu 600 Watt ist erst einmal die sogenannte Combined Power, die genau festlegt, dass in der Summe von externer PCIe-Stromversorgung (Aux) und dem PCIe-Motherboardslot (PEG) nicht mehr als 600 Watt als durchschnittliche Dauerlast abgerufen werden dürfen. Da spielt es auch keine Rolle, welche Schiene wie viel Leistung im Einzelnen liefert und das bisher übliche Addieren der Teilwerte aller Rails ist obsolet. Das betrifft also auch das Netzteil, aber… Auf das PCI Power Management und die Power Budgetierung muss man (noch) gar nicht eingehen, weil es einfach keine passenden PCIe 5.0 Grafikkarten und ATX 3.0-Netzteile gibt. Aha!
Außerdem gelten diese nachfolgend aufgeführten und von NVIDIA und AMD zusammen eingeforderten Normen nur für die Grafikkarten in den Bereichen von 300 bis 600 Watt, die Bereiche darunter verbleiben wie gehabt.
- Dauerleistung (Sustained Power) – Durchschnittliche Leistung in einem Zeitrahmen von 1 Sekunde oder mehr
- TDP – Thermal Design Power ist die maximale Dauerleistung
- Leistungsüberschreitung (Power Excursion) – Ein vorübergehender Zustand, in dem die Leistung die maximale Dauerleistung überschreitet
Im Allgemeinen kann man TDP und Sustained Power gleichsetzen, so dass ich hier in den folgenden generell den Begriff Sustained Power verwenden werde. Ich hatte es ja auch der ersten Seite schon erwähnt, dass man in den einzelnen Überlastbereichen für verschiedene Zeit-Intervalle auch unterschiedliche Leistungen definiert. Da dies im Bereich zwischen 300 und 600 Watt für alle Grafikkarten unabhängig von deren Sustained Power (auch TBP bei NVIDIA bzw. TDP bei AMD) gilt, kann man nicht mit absoluten Wattzahlen arbeiten, sondern muss ein Verhältnis (Ratio) zwischen der im jeweiligen Intervall gemessen Durchschnittslast zur Sustained Power definieren.
Das nachfolgende Diagramm zeigt nun sehr deutlich, wohin die Reise für die einzelnen Intervalle geht. Ab einer Sekunde und mehr gilt die Ratio von 1, weshalb die durchschnittliche Leistungsaufnahme die TDP dann nicht mehr überschreiben darf. Die andere Grenze liegt bei 100 µs, wo die eine Ratio von 3 sogar das Dreifache gestattet. Bei den von vielen Netzteilen für den Supervisor genutzten Intervall bei der Überwachung von 20 ms liegt die Ratio bei 1.25. Und spätestens jetzt fällt uns auch auf, dass die getestete NVIDIA RTX 4090 FE eine Ratio von 1.23 aufwies, was sicher alles andere als ein Zufall ist (415 Watt im Gaming-Durchschnitt und 512 Watt Spitzenlast, beides echte Messungen im Bild oben).
In bei nicht wirklich so seltenen Lastspitzen um die 1 ms wäre dann sogar eine Ratio von 2.5 erlaubt, was bei den exemplarisch gemessenen 415 Watt Leistungsaufnahme auf 1038 Watt herausliefe. Interessanterweise liegen die Lastspitzen bei 10 Mikrosekunden auch nicht über 516 Watt, so dass die Ratio von rund 1.24 von der Ratio 3 noch meilenweit entfernt liegt, die hier aberwitzige 1245 Watt vorschreibt. Hier beweist die Praxis, wie abgehoben das beteiligte Engineering geplant hat und was die Norm eigentlich für einen Unfug darstellt.
Leistungsaufnahme und Lastspitzen als extremer Mix
Ich zeige Euch nun den kleinen Auszug, dessen, was Intel den Herstellern ab 2022 mit auf den Weg gegeben hat und wir staunen immer noch über die Zahlen. Wer es nicht weiß: Mit CEM meint die PCI SIG Card Electromechanical, also die eingesteckten Add-In Karten. Der CPU-Hersteller veranschlagt für die CPU zwischen 275 und 300 Watt, was allerdings reichlich großzügig ist. Allerdings ist es auch mir schon gelungen, in einen Core i9-13900K weit über 350 Watt hineinzupressen, was dann die großzügige Bemessung schnell wieder relativiert.
Die Leistungsaufnahmewerte der Grafikkarten sind auch alles andere als utopisch, denn mit maximalem OC können die neuen Flaggschiffe um die 500 bis 600 Watt echte Board-Power abrufen. Aber das sollte dann schon die „Kotzgrenze“ sein. Die Veranschlagung für den Rest des Systems ist ziemlich inkonsequent, denn der Ansatz mit 100 Watt ist bei Mainboard-Leistungsaufnahmen von bis zu 50 Watt auch im unteren Bereich schon etwas eng, während die 300 Watt beim größten System etwas übertrieben sind. In der Summe dürfte das aber trotz allem irgendwie hinkommen, denn es deckt sich vieles mit dem, was ich schon zur Ratio schrieb. Die hier abgebildete Tabelle ist auch nicht meine Erfindung, sondern stammt im Original aus internen Briefing-Unterlagen von Intel:
Die veranschlagten Werte für die PSU-Bemessung („PSU Size“) sind damit geklärt, doch was hat es bitte schön mit der Total Power auf sich? Genau darüber müssen wir jetzt einmal reden, denn es ist genau der Part, der mir (und den Netzteilherstellern) die meisten Sorgen bereitet! Auch dafür gibt es von Intel eine definierte Vorstellung und gleichzeitige Ansage an die Produzenten der Stromversorger. Schauen wir uns das jetzt einmal an und bekommen große Augen. Auch wenn die Länge der höchsten Lastspitzen-Intervalle auf jeweils 100 μS begrenzt ist, ist der zulässige Gesamtanteil von bis zu 10% am Gesamtaufkommen geradezu abstrus. Das heißt, das Netzteil muss über 10% der Betriebsdauer eigentlich 200% der Leistung abliefern!
Damit wird aus dem 1,2 kW-Netzteil eigentlich ein verkapptes 2,4 kW-Netzteil. Denn man definiert so auch, dass der Normalbetrieb ohne Aufschlag bei gerade mal 50% liegen kann und die restliche Zeit munter überlastet werden darf. Natürlich wird dies alles mehr oder weniger auch auf eine reine Single-Rail-Lösung hinauslaufen, aber rein elektrotechnisch ist dies glatter Wahnsinn. Welche Supervisor-Chip soll hier noch in einem fest definierten Intervall eine zuverlässige Schutzschaltung für OCP/OPP realisieren können? Was ist dann noch eine zulässige Last und wo beginnt der Notfall?
Und falls jetzt noch das eine oder andere Auge trocken geblieben ist: NVIDIA hat ursprünglich sogar auf satte 235% hingewirkt und dies den Netzteilherstellern auch als „Empfehlung“ und „Ratschlag“ mit auf den Weg gegeben. Diese Aussage steht sogar heute noch und Firmen wie be quiet! und Corsair halten sich stillschweigend brav daran, während sich die qualifizierteren Netzteil-Tester immer verwundert die Augen reiben. Wobei ja nach den ganzen Messungen aus meiner täglichen Praxis die Frage erlaubt sein muss, wozu das Ganze eigentlich dienen soll. Für die NVIDIA-Karten mit Ada-Architektur sind diese Vorgaben erwiesenermaßen obsolet, für RDNA3 übrigens auch, wenn ich den Messungen meiner Quellen trauen darf (auch wenn ich derzeit aus NDA-Gründen keine genauen Zahlen nennen kann).
ATX v3.0 – Grenzwerte aufweichen, Augen zu und irgendwie durch!
Denn auch wenn vielleicht einige der Hersteller mit entsprechend aufzubringenden Kosten in der Lage wären, solche Netzteile auch unter den aktuell geltenden ATX-Spezifikationen zu realisieren, liegt die Messlatte an die Qualität der Netzteile und die einzuhaltenden Grenzwerte für die meisten der Billigproduzenten doch viel zu hoch. Oder die Produkte wären dann zumindest wieder so teuer, dass die Akzeptanz komplett gegen null ginge. Also biegt man sich das Ganze etwas zurecht und riskiert damit sogar noch die Abwärtskompatibilität. Beginnen wir aber wieder bei der PCI SIG und schauen, was man dort vorgibt:
Soweit, so klar. Und nun schließt sich der Kreis des energetische Schaulaufens, wenn wir noch die Transienten mit einbeziehen. Ich weiß, es war wieder mal eine Menge Theorie, aber ich hoffe, es ist trotz oder besser auch wegen des bewussten Herunterbrechens auf allgemeinverständlichere Formulierungen noch gut rübergekommen. Wie bereits mehrmals geschrieben, es bezieht sich auf die obere Leistungsklasse, die natürlich auch besonders durstig ist. Ob man das Spiel als Endkunde dann wirklich mitspielen wird, ist jedem selbst überlassen. Es ist am Ende ja auch eine Gewissensfrage.
Zusammenfassung und Fazit
Braucht man zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt so ein extrem überdimensioniertes ATX 3.0 Netzteil? Diese Frage würde ich für den Moment wirklich mit einem klaren Nein beantworten, wenn man sich beim Neukauf an gewisse Grundregeln bei der Netzteilbemessung hält. Zum Einen können derart konstruierte Netzteile durchaus Probleme mit ältere Systemen verursachen (Spannung) und zum Anderen verkompliziert es die Herstellung (und Kosten) wirklich effizienter Netzteile und Gesamtsysteme nur unnötig. Teuer statt sinnvoll, was für eine Farce für den Kunden…
Wer ein NEUES System mit einer High-End-Grafikkarte plant, der kann natürlich auch auf ein neues ATX 3.0 Netzteil vertrauen, zumal er dann nicht noch mühsam nach dem 12VHPWR-Kabel suchen muss. Aber allein deswegen so ein meist teureres Netzteil zu kaufen, weil man damit lediglich den beigelegten 12VHPWR-Adapter ersetzen möchte, ist kompletter Unfug. Solange das aktuelle Netzteil noch gut und nicht allzu alt ist. Hier lohnt sich erst einmal der Blick ins optionale Zubehör auf dem Drittanbieter-Markt.
Die guten Netzteile kommen mit mindestens 5 Jahre Garantie zum Kunden, manche sogar mit bis zu 10 Jahren. Wer jetzt denkt, er macht mit einem neuen, teuren ATX 3.0 Netzteil nichts falsch und tätigt damit auch noch eine sinnvolle Investition in die weiter entfernt liegende Zukunft, der begeht unbewusst einen grundlegenden Fehler! Denn das, was momentan als ATX 3.0 angekündigt wurde oder gerade auf den Markt gekommen ist, bietet zumindest beim Grafikkarten-Anschluss und dem smarten Power-Managament noch nichts, was ältere Netzteile nicht auch könnten. Mit etwas Pech ist der tolle 400-Euro-Bolide dann in zwei Jahren schon wieder technische Steinzeit, wenn endlich alle vier Sense-Pins genutzt werden.
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