Auch wenn eine Webseite wie unsere sich normalerweise nur mit den technischen Dingen des Lebens beschäftigt, kann man in bestimmen Situationen wirklich nicht schweigen, man darf es einfach nicht. Ja, die Annektion der Ukraine durch den russischen Staat (ich schreibe bewusst nicht Russland), also eines eigenständigen, europäischen Staates mit einer legitim gewählten Regierung, betrifft mich auch persönlich. Natürlich ist es auch immer eine Gratwanderung, private Dinge öffentlich zu schreiben, aber vielleicht es es am Ende auch eine ganz gute Möglichkeit, das Erlebte zu verarbeiten.
Auch wenn es mein Name und Nachname vielleicht implizieren mögen, ich bin Deutscher mit einem ziemlich deutschen Stammbaum. Aber ich habe während meines Studiums auch in der damaligen Sowjetunion gelebt und spreche Russisch faktisch als zweite Muttersprache. Meine Frau ist Ukrainerin und somit auch ein großer Teil meiner Familie. Meine Gedanken sind auch deshalb und nicht erst seit gestern bei unseren Angehörigen, meinen Patenkindern, den vielen Freunden und Bekannten. Die Ukraine ist ein Flächenstaat und unsere Familie lebt überwiegend nicht in einer der Großstädte, sondern auf dem Land. Es sind einfache Menschen, die ihr Land lieben und nie den Gedanken hatten, diese Heimat verlassen zu wollen
Wir haben als Familie seit Jahren aktiv geholfen, das Leben dort etwas lebenswerter und leichter zu machen. Faktisch als Hilfe zur Selbsthilfe. Doch seit gestern sind wir alle geschockt, wie ein Einzelner es schaffen kann, in nur wenigen Stunden all das auszuradieren, was Millionen von Menschen in den letzten Jahren für sich und ihre Gesellschaft mühsam aufgebaut und für das sie gekämpft und viel riskiert haben. Ich habe seinerzeit diese Revolution mit begleitet und fühlte mich stets an 1989 und mein Leben in der DDR erinnert, wo es das normale Volk war, das sein Schicksal endlich in die eigenen Hände nehmen wollte und es auch getan hat.
Ich möchte Euch für das bessere Verständnis mit einigen Bildern aus meiner Sammlung zeigen, dass es selbst außerhalb von Kiev eine echte Bewegung normaler Bürger war, die sich nicht Anderes als ein freies Leben und eine bessere Zukunft für Ihre Kinder gewünscht haben. Es war ein Aufbruch aus einer verkrusteten, autokratischen Gesellschaft, die an allen Ecken auf die Unterdrückung der Andersdenkenden setzte und das Bonzentum mit Parteiabzeichen zelebrierte. Wenn man heute von einer aus dem Ausland inszenierten und gesteuerten Bewegung spricht, dann ist es eine Beleidigung all derer, die einfach nicht mehr so weiterleben wollten und konnten. Im Vergleich dazu war das Leben in der DDR noch Jammern auf allerhöchstem Niveau.
Die Ukraine war stets, egal aus welcher historischen Sichtweise man es betrachtet, ein Spielball zwischen großen Blöcken und Interessengruppen. Ich war glücklich, diesen Aufbruch in eine selbstbestimmte Zukunft aktiv mit begleiten zu dürfen. Dass es auch nach der Orangenen Revolution eine nicht geringen Korruption und gesellschaftliche Verwerfungen zwischen ganz arm und ganz reich gab, muss man nicht wegdiskutieren. Nur wenn ich mir heute das Lobbyistentum und die Vermögensaufteilung in Deutschland so anschaue, dann ist das nichts anderes, nur eben auf einem anderen Level.
Das jetzt angegriffene Land war drauf und dran, für Russland das Schaufenster Europas zu werden, wo sich ehrlich und hart arbeitende Menschen auch ein gewisses Stück Freiheit selbst gegönnt haben. Dass dies nicht überall und bei jedem, der in altem, ewig gestrigen Denken verharrt, gut ankommt ist nur logisch. Ich habe in der ehemaligen Sowjetunion und unter dem Mantel eines “sozialistischen” Lebensplanes so viel Armut, Hunger und Elend gesehen, wie ich es nicht für möglich gehalten hatte. Dass es heute und auch hier starke Tendenzen gibt, diesen Horror historisch zu verklären, wiegt da umso schlimmer.
Ich war gestern unfähig zu arbeiten oder gar zu schreiben und bin es heute eigentlich immer noch. Manche Nachrichtenkanäle gibt es nicht mehr und es sind auch nicht mehr alle zu erreichen, mit denen ich gerade jetzt ganz gern einmal ein paar Worte wechseln würde. Mein Neffe absolviert gerade in Kiev seinen Grundwehrdienst und hat (oder hatte) sein ganzes Leben noch vor sich. Ich muss mich erst einmal sammeln und das Erlebte verarbeiten. Die Prioritäten liegen also erst einmal bei der Familie und den Freunden, die mir nahestehen.
Großen Wert lege ich auch darauf, dass es nicht pauschal die Russen sind, die das Land und die Demokratie angegriffen haben, sondern ein zweitklassiger, verbohrter Stalin-Verschnitt und KGB-Mitläufer aus der zweiten Reihe, dessen Geschichtskenntnisse bedauerlicherweise auf einem embryonalen Stadium stehen geblieben sind und der jetzt genau jetzt auslebt, was ihm die Gesellschaft früher mangels Profil und Können verwehrt hat: Macht. Ein Mann, durch dessen Hände sicher auch damals 1987 in Dresden mein Pass gegangen sein muss, als es um ein Langzeitvisa für die Sowjetunion samt der politischen Unbedenklichkeit meiner Person ging.
Es heißt immer: Wehret den Anfängen! Hoffen wir mal, dass diese Tage nicht das Ende sind. Denn es betrifft alle und jeden. Meine Gedanken sind derzeit 1600 km weiter östlich, da werden Dinge wie Chipmangel oder Preise für Hardware schnell zu verschmerzbaren Kleinigkeiten. Ich möchte Euch auch bitten, im Forum gesittet und wie Erwachsene zu diskutieren, denn die Menschen, die erneut vor einer Unterdrückung durch eine post-kommunistische Diktatur mit einem krankhaften Realitätsverweigerer stehen, haben das allemal verdient. Danke.
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